Autor: Hasan Kadioglu

  • Halal, Koscher und das Tierwohl

    Halal, Koscher und das Tierwohl

    „Halal“ ist Arabisch und steht für „erlaubt“ und kennzeichnet, ob eine Aktion für Muslime gestattet ist oder nicht. Populär ist die Verwendung dieses Wort insbesondere in der Beurteilung von Speisen, die bestimmten Kriterien genügen müssen. Viele Regeln, die eine Speise „halal“ machen, sind dabei sehr ähnlich zu den jüdischen Speisegesetzen („koscher“, vgl. Kaschrut). Wenn etwas halal oder koscher ist, dann wissen wir: Es ist rein, sauber, gut. Halal bedeutet Vertrauen, Transparenz über die Herkunft von Fleisch und die Inhaltsstoffe einer Speise. Das heißt auch: Dort, wo ich als Muslim kein Halal-Fleisch bekomme, kaufe ich ohne zu zögern beim jüdischen Metzger. Denn da weiß ich um die Qualität.

    Die Tierart und Schlachtung spielen eine Rolle

    Nur das Fleisch bestimmter Tiere, wie etwa vom Rind, Schaf oder Hühner, darf konsumiert werden, nachdem es auf eine bestimmte Art gehalten und geschlachtet wurde. Das Schlachten eines Tieres erfordert im Islam in der Regel die Schächtung. Das heißt, dem Tier werden Schlagader, Speise- und Luftröhre mit einem einzigen, sauberen Schnitt durch ein explizit scharfes und langes Messer durchtrennt. Ziel ist, dass das Tier das Bewusstsein verloren hat bevor der Metzger bis zwei zählen kann. Kurze Zeit darauf ist es auch schon tot. Die Schächtung dient also zugleich der Betäubung des Tieres.

    Zahlreiche Wissenschaftler haben das Schächten – ohne Betäubung – geprüft, und sind zum Schluss gekommen, dass es für die Tiere sogar weniger schmerzhaft sein kann als das konventionelle Schlachten, wenn es regelkonform ausgeführt wird. [Am Ende finden sich beispielhafte Aufsätze aus einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften].

    Bei der Untersuchung stressbedingter Hormone (Adrenalin, Noradrenalin und Corticosteron) bei Masthühnern etwa wurde klar, dass sowohl die Plasmaspiegel von Adrenalin als auch von Corticosteron während der Betäubung statistisch signifikant höher waren als bei den anderen Proben.

    Zulkifli, I, Z Wakiman, A.Q. Sazili, Y.M. Goh, A Jalila, Z Zunita, und E.A. Awad. „Effect of shackling, electrical stunning and halal slaughtering method on stress-linked hormones in broilers“. South African Journal of Animal Science 49, Nr. 3 (25. Juni 2019): 598. https://doi.org/10.4314/sajas.v49i3.20.

    Bei der konventionellen Betäubung mit Bolzenschuss hingegen wird das Tier – so lautet die Kritik aus akademischen Kreisen – unnötigem Stress ausgeliefert, und kann sogar, anders als gewünscht, noch mehr Schmerzen empfinden.

    Woher die Vorurteile gegen das Schächten stammen

    Das Schächten ist unabdingbarer Teil der jüdischen und islamischen Speisegesetze, dennoch gilt es in Deutschland als „grausam“. Viele wissen aber nicht, dass diese Zuschreibung seinen Ursprung in der antisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus hat. Es war den menschenfeindlichen Nazis so wichtig, dass sie nur vier Monate nach der Machtergreifung diese jahrtausendealte Technik gesetzlich verboten.

    Der Grund? In der Präambel des Reichstierschutzgesetzes heißt es: „Die überwältigende Mehrheit des Deutschen Volkes hat schon lange das Töten ohne Betäubung verurteilt, eine Praxis, die unter Juden allgemein verbreitet ist.“ Von wegen Tierschutz! Es ging um die Dämonisierung von Juden und den Erlass eines antisemitischen Gesetzes. Besonders kurios, weil das Reichsgesundheitsamt 1930 das Schächten vom Vorwurf der Tierquälerei freisprach.

    Klar ist: Das Schächten ist mit dem Tierwohl vereinbar. Nichtsdestotrotz blieben die von den Nationalsozialisten strategisch geschürten Ressentiments leider unbewusst in Teilen unserer Gesellschaft erhalten.

    Besonders paradox: Während das Schächten ohne Betäubung in der deutschen Rechtsprechung grundsätzlich mit Verweis auf das Tierwohl verboten ist, gelten lange, überflüssige Tiertransporte und beengte Massentierhaltung hingegen als artgerecht und mit dem Tierwohl vereinbar. Das können wir besser!

    Quellen

    • Aghwan, Z.A., A.U. Bello, A.A. Abubakar, J.C. Imlan, and A.Q. Sazili. ‘Efficient Halal Bleeding, Animal Handling, and Welfare: A Holistic Approach for Meat Quality’. Meat Science 121 (November 2016): 420–28. https://doi.org/10.1016/j.meatsci.2016.06.028.
    • Bager, F., T.J. Braggins, C.E. Devine, A.E. Graafhuis, D.J. Mellor, A. Tavener, and M.P. Upsdell. ‘Onset of Insensibility at Slaughter in Calves: Effects of Electroplectic Seizure and Exsanguination on Spontaneous Electrocortical Activity and Indices of Cerebral Metabolism’. Research in Veterinary Science 52, no. 2 (March 1992): 162–73. https://doi.org/10.1016/0034-5288(92)90005-M.
    • Grandin, T. ‘Euthanasia and Slaughter of Livestock’. Journal of American Veterinary Medical Association 204 (1994): 1354–1360.
    • Grandin, T., and J. M. Regenstein. ‘Religious Slaughter and Animal Welfare: A Discussion for Meat Scientists’. Meat Focus International, 1994, 115–123.
    • Lerner, Pablo, and Alfredo Mordechai Rabello. ‘The Prohibition of Ritual Slaughtering (Kosher Shechita and Halal) and Freedom of Religion of Minorities’. Journal of Law and Religion 22, no. 1 (2006): 1–62. https://doi.org/10.1017/S0748081400003210.
    • Pozzi, Paolo, Wassim G., Barakeh S., and Mohammad Azaran. ‘Principles of Jewish and Islamic Slaughter with Respect to OIE (World Organization for Animal Health) Recommendations’. Israel Journal of Veterinary Medicine 70 (1 September 2015): 3–16.
    • Pozzi, Paolo S., and Trevor Waner. ‘Shechita (Kosher Slaughtering) and European Legislation’. Veterinaria Italiana 53, no. 1 (2017): 5–19.
    • Rosen, S. D. ‘Physiological Insights into Shechita’. Veterinary Record 154, no. 24 (12 June 2004): 759. https://doi.org/10.1136/vr.154.24.759.
    • Zivotofsky, Ari Z. ‘Government Regulations of Shechita (Jewish Religious Slaughter) in the Twenty-First Century: Are They Ethical?’ Journal of Agricultural and Environmental Ethics 25, no. 5 (October 2012): 747–63. https://doi.org/10.1007/s10806-011-9324-4.
  • Antisemitismus (3/3): So erging es Juden unter Christen und Muslimen

    Antisemitismus (3/3): So erging es Juden unter Christen und Muslimen

    Hinweis: Diese Analyse baut auf dem Text „Antisemitismus unter Muslimen in der Geschichte“ auf und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

    Unter der Herrschaft des verrückten fatimidischen Herrschers al-Hakim, den fanatischen Almohaden und dem arabischen Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert ist es zu Antisemitismus unter Muslimen gekommen.

    “Der arabische Antisemitismus entstand ursprünglich im neunzehnten Jahrhundert, als sich christliche Araber klassischer Stereotypen des christlichen Antisemitismus bedienten. Mit der Verschärfung des arabisch-jüdischen und arabisch-israelischen Konflikts intensivierte sich diese Form des Antisemitismus und wurde zum Allgemeingut der arabischen Welt.”

    Cohen, Mark R. Unter Kreuz und Halbmond: die Juden im Mittelalter. 2. Auflage. München: Beck, 2011. 27f.

    Den ganzen Text findest du hier.


    Inhaltsverzeichnis


    Das „christlich-jüdische Abendland“ war historischer Schauplatz massivster Repressalien und des grausamen Holocausts an Juden. Bereits in der Zeit der lateinischen Christenheit entwickelte sich die Sicherheit der Juden „umgekehrt proportional zum allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstand der Gesellschaft”. Das steht laut Mark. R. Cohen, einem amerikanischen Wissenschaftler für jüdische Geschichte in der muslimischen Welt und emeritierten Professor für Nahoststudien an der Princeton University, „in scharfem Gegensatz zum jüdischen Leben unter islamischer Herrschaft.“ Dort habe der Wohlstand und die physische Sicherheit der Juden in unmittelbarem Zusammenhang zur wirtschaftlichen Entwicklungen der Gesamtgesellschaft gestanden. „Dabei handelt es sich lediglich um eines von vielen Anzeichen des Ausmaßes ihrer Integration in die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der umfassenderen islamischen Welt, in der sie lebten.” (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 96.)

    Die Verfolgung und Ausgrenzung von Juden hatte in der Christenheit auch theologische Gründe, wie Mark R. Cohen klarstellt: „War die Bekämpfung des Judentums und der jüdischen Schriftauslegung für das Christentum von essentieller Bedeutung, so begegnete sie im Islam nur zufällig.“ (S. 145)

    So war etwa während des Hoch- und Spätmittelalters unter Christen der Glaube weitverbreitet, die Juden stünden in enger Beziehung zum Teufel (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 169.) Hintergrund waren demnach neutestamentliche Passage, welche die Juden mit Satan in Verbindung brachten (z.B. Offenbarung 3, 9).

    1 | Israel und Edom


    1.1 | Das „Judenrecht“

    Dieses Bild gehört zu einer handschriftlichen Kopie des Originalbuchs '''Concordia Discordatium Canonum''' aus dem 13. Jahrhundert.
    Dieses Bild gehört zu einer handschriftlichen Kopie des Originalbuchs “’Concordia Discordatium Canonum“‘ aus dem 13. Jahrhundert.

    Das christlich-römische „Judenrecht“ zählte die Juden zu Heiden und Ketzern, mit denen man den alltäglichen Umgang vermeiden sollte. Das Decretum Gratiani (1140) – die bedeutendste und bis 1917 geltende mittelalterliche Sammlung des kirchlichen Rechts – verkündete, dass „Heiden, Ketzer oder Juden keinen Prozeß gegen Christen führen dürften. Das germanische Recht verbot, wahrscheinlich unter dem Einfluß des römischen und des kanonischen Rechts, Juden – ebenso wie Heiden und Ungläubigen – für jemanden das Wort zu ergreifen und im Gericht gegen einen Christen zu klagen”. (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 112f.)


    1.2 | Papst gebietet spezielle Kleidung für Juden und Muslime

     Illustration von Matthew Paris in der Chronica Maiora des Vierten Laterankonzils
    Illustration von Matthew Paris in der Chronica Maiora des Vierten Laterankonzils

    Im „Concilium Lateranense IV“ (Viertes Laterankonzil, 1213-1215) gebietet Papst Innozenz III. der Christenheit unter anderem folgendes:

    1. Juden und Muslime sollen sich abweichend zu Christen kleiden, damit keine irrtümlichen Beziehungen zwischen ihnen und der christlichen Mehrheit entstehen. Mischehen mit Christen sind verboten und werden als Verbrechen mit dem Ehebruch gleichgestellt und mit der Todesstrafe geahndet.
    2. Juden und Muslime dürfen sich an den Feiertagen des Gründonnerstags und des Karfreitags nicht in der Öffentlichkeit zeigen.
    3. Juden, Heiden und Muslime dürfen keine öffentlichen Ämter ausüben, da sie sonst über Christen herrschen würden.

    Juden wurden mit Aussätzigen assoziiert, was ihren Status als Außenseiter massiv verstärkte. „Da auch für verabscheute Gruppen wie die Prostituierten eine spezielle Kleidung vorgeschrieben war, mußten die Christen die besondere Kennzeichnung der Juden zwangsläufig als Ausdruck der Herabsetzung und Ausgrenzung verstehen.” (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 113.)

    “Im Westen wurden die Juden aus der organischen Hierarchie der Gesellschaft ausgegrenzt: als Fremde angegriffen, wegen angeblicher Verbrechen gegen Christen und Christentum kollektiver Verfolgung ausgesetzt, zunehmend isoliert in ihren jüdischen Vierteln, bald schon auf gesetzlich vorgeschriebene Ghettos beschränkt und allzu oft aus Ländern vertrieben, in denen sie und ihre Vorfahren Hunderte von Jahren gelebt hatten. Im Orient blieben die Juden trotz ihrer Marginalität eben marginal, zumindest während der klassischen Periode des Islam; sie wurden aber nicht ausgegrenzt.”

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 195.

    1.3 | Öffentliche Verbrennung des Talmuds

    Diskussion zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten von Johann von Arnssheim (1483)
    Diskussion zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten von Johann von Arnssheim (1483)

    Am Hof von König Ludwig IX. von Frankreich begann 1240 die „Disputation von Paris“ gegen den Talmud, eines der bedeutendsten Quellen des Judentums. 35 Anschuldigungen wurden angebracht und nach zwei Jahren wurde der Talmud als blasphemisch wegen Gotteslästerung verurteilt und verdammt. Danach wurden bis zu 10.000 Bände jüdischer heiliger Texte verbrannt.


    1.4 | Verbot der Zusammenkünfte mit Juden

    Das Siete Partidas aus dem 13. Jahrhundert des kastilisch-katholischen Königs Alfonso X. verbot gemeinsame Mahlzeiten und andere Zusammenkünfte zwischen Christen und Juden, um Juden an ihr Exil zu erinnern.


    1.5 | Verfolgung und Bekämpfung in den Kreuzzügen

    Dieses Gemälde zeigt eine Szene aus dem dritten Kreuzzug (1320). Fünfhundert Juden verstecken sich im Turm von Verdun-sur-Garonne, während die Kreuzfahrer ihn in Brand setzen.
    Dieses Gemälde zeigt eine Szene aus dem dritten Kreuzzug (1320). Fünfhundert Juden verstecken sich im Turm von Verdun-sur-Garonne, während die Kreuzfahrer ihn in Brand setzen.

    Bekannt sind die Beispiele umfangreicher Massaker, die während der Kreuzzüge einsetzten. Juden, die man des Mordes an christlichen Kindern beschuldigte, wurden gefoltert und in vielen Fällen hingerichtet. Andere wurden verfolgt, weil sie angeblich Brunnen vergiftet oder Hostien gestohlen oder gepeinigt hatten (der sogenannte «Hostienfrevel»). Juden litten unter wirtschaftlicher Verfolgung (etwa durch offizielle Einschränkungen ihrer beruflichen Möglichkeiten und durch Angriffe auf ihr Eigentum). Der Talmud wurde verbrannt, und man zwang Juden, Bekehrungspredigten anzuhören, allesamt Maßnahmen, die darauf zielten, den Einfluß des Judentums auf seine Anhänger zu schwächen. Nicht zuletzt wurden Juden aus Städten, Grafschaften und ganzen Königreichen vertrieben.“

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 161.

    Der Kreuzzuggedanke und die erstarkende christliche Frömmigkeit führten zu einer verstärkten Ausgrenzung von Juden in Europa. Sie wurden als „Ungläubige“ gesehen und damit waren sie extra ecclesiam, also „außerhalb der Kirche“.

    Auf die Unterdrückung und Verfolgung reagierten Juden in christlichen Ländern mitunter sehr drastisch, wie ein hebräischer Bericht über das Massaker an den Juden während des Ersten Kreuzzugs zeigt, den Mark R. Cohen zitiert:

    „Die Frauen gürteten ihre Lenden […], erschlugen erst ihre eigenen Söhne und Töchter und schließlich sich selbst. Auch viele Männer […] schlachteten ihre Frauen, Kinder und Säuglinge. Die sanftesten und zärtlichsten Frauen schlachteten das Kind ihrer Wonne. Sie alle standen auf […] und erschlugen einander. Junge Mädchen, Bräute und Bräutigame schauten aus dem Fenster und schrien mit lauter Stimme auf: «Schau hin und siehe, Herr, was wir tun, um Deinen großen Namen zu heiligen, um Dich nicht für einen gekreuzigten Sproß einzutauschen, der von seinem eigenen Geschlecht verschmäht, verabscheut und verachtet wurde, ein Bastard einer unreinen, liederlichen Mutter.»“

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 173.

    1.6 | „Extra Ecclesiam nulla salus“

    Porträt von Cristofano dell'Altissimo, nach einer Vorlage von Jean Fouquet
    Porträt von Papst Eugen IV., erstellt von Cristofano dell’Altissimo, nach einer Vorlage von Jean Fouquet

    „[Die heilige römische Kirche, durch das Wort unseres Herrn und Erlösers gegründet,] glaubt fest, bekennt und verkündet, daß‚ niemand außerhalb der katholischen Kirche — weder Heide noch Jude noch Ungläubiger oder ein von der Einheit Getrennter — des ewigen Lebens teilhaftig wird, vielmehr dem ewigen Feuer verfällt, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist, wenn er sich nicht vor dem Tod ihr [d. i. der Kirche] anschließt.“

    Cantate Domino, Bulle von Papst Eugen IV. auf dem Konzil von Florenz im Jahr 1442

    1.7 | Verfolgungsgesellschaft

    „Für Juden, die unter christlicher Herrschaft lebten, wurde aus Marginalität während der langen Periode vom frühen über das hohe bis zum Spätmittelalter Ausgrenzung: Sie wurden zunehmend auf bestimmte Wohnviertel (noch keine Ghettos) beschränkt, physisch angegriffen, zur Aufgabe des Judentums gezwungen, als Einzelne oder in Gruppen ermordet und vertrieben. Auch die islamische Gesellschaft gestattete Juden und Christen die Vorteile des Lebens in einer marginalen Situation innerhalb ihrer hierarchischen Gesellschaftsordnung, doch dort hatte diese marginale Situation viel stärkeren Bestand und nahm nicht die Gestalt von Ausgrenzung mittels Vertreibung an.“

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 116.

    Im krassen Gegensatz dazu steht die Erfahrung der Juden in muslimischen Ländern: „In den klassischen Jahrhunderten islamischer Herrschaft mussten Juden keine Vertreibungen befürchten.“ (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 165.)

    Der Historiker Robert lan Moore charakterisiert das mittelalterliche Christentum mit dem Begriff der „Verfolgungsgesellschaft“, in der die europäische Christenheit seit dem zwölften Jahrhundert zunehmend feindselig gegenüber Juden, Ketzern und Aussätzigen handelte.

    “In den Jahren der Pest, die zwischen 1348 und 1350 in ganz Europa wütete, kam es dort zu massiven Pogromen gegen die Juden, die angeblich die Brunnen vergiftet hatten, um die christliche Zivilisation zu zerstören. Die Pest verwüstete auch die islamische Welt, doch nirgendwo gab man dort den Juden die Schuld, geschweige denn, dass man sie zu vernichten versuchte.

    Das genannte Kriterium für die Bezeichnung der Christenheit als einer Verfolgungsgesellschaft – die Verbindung zwischen Juden, Häretikern und Aussätzigen – läßt sich nicht ohne weiteres auf den Islam übertragen.

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 168.

    Grund dafür sei die unterschiedliche Vorstellung von Häresie im Islam und Christentum. Wie das Judentum lege der Islam Wert auf die Praxis, gestatte aber einen großen Spielraum, was Glaubensfragen betrifft.

    «Häresie wurde nur geahndet, wenn man meinte, daß sie die soziale und politische Ordnung ernsthaft gefährdete», schreibt Bernard Lewis. Das verhält sich seiner Aussage nach ähnlich wie im Falle der Haltung gegenüber Nichtmuslimen, die unterdrückt wurden, wenn sie das Gesetz (der dimma) brachen oder gegen die Aufrechterhaltung der sozialen oder politischen Ordnung verstießen.”

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 168.

    1.8 | Nationalismus, ethnische Homogenität und exklusivistischer Imperativ

    Eine Ursache für die Verfolgung und Unterdrückung von Juden in der Christenheit war laut Cohen zudem die ethnische Homogenität in Europa im Gegensatz zur ethnischen Vielfalt in muslimischen Ländern. Durch die ethnische Homogenität „trat der exklusivistische Imperativ, welcher der christlichen religiösen Theorie immer schon innegewohnt hatte, in den Vordergrund und verstärkte die Neigung zur Ausgrenzung der Juden. In vielen Fällen erwies sich Ausgrenzung als Station auf dem Weg der Beseitigung des Judentums durch die Bekehrung oder Vertreibung der Juden. Im Islam blieb eine solche Entwicklung aus.“ (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 121.)

    Bereits am Ende des Mittelalters stößt man bei den Juden auf die Überzeugung, dass der mittelalterliche Islam den Juden einen friedlichen Zufluchtsort bot, während die Christenheit sie unerbittlich verfolgte. Diese Juden wussten, dass die muslimische Türkei jüdischen Opfern von Verfolgungen aus dem katholischen Spanien und anderswo Zuflucht gewährt hatte.

    Die Kapitulation von Granada: Der letzte König von Granada, Abu Abdullah Muhammad XII, übergibt Granada, die letzte muslimische Hochburg in Andalusien, an den katholischen König Ferdinand II. von Aragonien

    Eine Reihe von hebräischen Chroniken nach der brutalen Repression durch die spanische Inquisition und der traumatischen Vertreibung der Juden aus der iberischen Halbinsel im Jahr 1492 verdeutlichte den Kontrast zwischen christlicher Feindschaft und muslimischem Wohlwollen.

    „Davon ermüdet, die elende Lage der Juden in ihrer alten Heimat und in den Ländern Europas zu betrachten, und ermüdet vom ständigen Anblick fanatischer Unterdrückung in der Christenheit, ruhen die Augen des Betrachters mit Freude auf ihrer Lage auf der arabischen Halbinsel. Hier waren die Söhne Judas frei, ihr Haupt zu erheben, und brauchten nicht mit Furcht und Demütigung um sich zu blicken, damit sich nicht der kirchliche Zorn an ihnen entlud oder die weltliche Macht sie überwältigte. Hier waren sie nicht von den Pfaden der Ehre ausgeschlossen, auch nicht von den Privilegien des Staates, sondern durften ungehindert inmitten eines freien, einfachen und begabten Volkes ihre Kräfte entfalten, ihren männlichen Mut zeigen, um die Gaben des Ruhmes wetteifern und mit geübter Hand die Schwerter mit ihren Gegnern messen.“

    Heinrich Graetz, führender jüdischer Historiker des 19. Jahrhunderts

    1.9 | Contra la „Reconquista“

     Paolo Veronese (Paolo Caliari)(Nachfolger), Sultan Bajozeth II., Bayerische Staatsgemäldesammlungen - Staatsgalerie in der Residenz Würzburg, URL: https://www.sammlung.pinakothek.de/en/artwork/MwE4KdpxZ5 (Last updated on 05.09.2019)
    Paolo Veronese (Paolo Caliari)(Nachfolger), Sultan Bajozeth II., Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Staatsgalerie in der Residenz Würzburg, URL: https://www.sammlung.pinakothek.de/en/artwork/MwE4KdpxZ5 (Last updated on 05.09.2019)

    Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien, „die katholischen Könige“, befahlen im Jahr 1492 im Rahmen der „Reconquista“ die Konversion von spanischen Juden zum Christentum – oder die Vertreibung aus der iberischen Halbinsel. Alle, die sich nicht beugen wollten, wurden von der spanischen Inquistion brutal verfolgt, gefoltert und ermordet. Der türkisch-osmanische Sultan Bayezid II. lud die Juden in sein Land ein und schickte Dutzende Schiffe, damit die Juden der Inquisition durch „die katholischen Könige“ entkommen konnten. Diese sephardischen Juden fanden vor allem in Istanbul und Thessaloniki im heutigen Griechenland eine neue Heimat. Zur Zeit des Sultan Süleymans des Prächtigen waren von den 500.000 Einwohnern Istanbuls etwa 40.000 jüdischen Glaubens (acht Prozent).

    Wenige Jahre nach dem Edikt Ferdinand und Isabellas befahl auch der portugiesische König Manuel I. im Jahr 1497, dass alle Juden und Muslime sich entweder taufen lassen oder das Land verlassen mussten. Erneut kam es zu Massenvertreibungen, die Juden fanden selbstverständlich Asyl in muslimischen Ländern.

    1.10 | Vom Heiligen Römischen Reich ins Osmanische Reich

    Im 15. Jahrhundert wurde auch die Verfolgung der Juden in Deutschland so schlimm, dass sie ins Osmanische Reich flüchteten. Die Juden Österreichs wurden unter Herzog Albert V. in den Jahren 1420 und 1421 verfolgt, auch in anderen deutschen Gebieten kam es zu Inquisitionsprozessen, Hinrichtungen, Vertreibungen und Ausschreitungen gegen Juden.

    Gemälde des italienischen Malers Fausto Zonaro, das den Einzug Mehmeds II. in Konstantinopel darstellt.
    Gemälde des italienischen Malers Fausto Zonaro, das den Einzug Mehmeds II. in Konstantinopel darstellt.

    Yitzhak Sarfati, ein französischer Jude, der in Deutschland geboren und aufgewachsen war, schrieb als Oberrabbiner der türkischen Provinz Edirne einen Brief an die Juden in Deutschland und Ungarn. Darin heißt es:

    „O Israel, warum schläfst du? Steh auf und verlasse dieses verfluchte Land für immer!“

    Yitzhak Sarfati (1454), zitiert in seinem Brief an die europäischen Juden Psalm 44

    Yitzhak Sarfati an die Juden von Suavia, dem Rheinland, der Steiermark, Mähren und Ungarn

    Ich habe von den Leiden gehört, die bitterer sind als der Tod, die unsere Brüder in Deutschland befallen haben – von den tyrannischen Gesetzen, den Zwangstaufen und den Verbannungen, die täglich vorkommen. Man sagt mir, dass, wenn sie von einem Ort fliehen, ihnen an einem anderen ein noch härteres Schicksal widerfährt. Ich höre, wie ein unverschämtes Volk seine Stimme im Zorn gegen einen treuen Rest erhebt, der unter ihm lebt; ich sehe, wie es die Hand erhebt, um meine Brüder zu erschlagen. Von allen Seiten erfahre ich von Seelenqualen und körperlichen Qualen, von täglichen Abgaben, die von unbarmherzigen Unterdrückern erhoben werden.

    Der Klerus und die Mönche, die falschen Priester, die sie sind, erheben sich gegen das unglückliche Volk Gottes und sagen: „Lasst uns sie bis zur Vernichtung verfolgen; der Name Israels soll unter den Menschen nicht mehr bekannt sein. Sie glauben, ihr Glaube sei in Gefahr, weil die Juden in Jerusalem vielleicht die Grabeskirche kaufen könnten. Deshalb haben sie ein Gesetz erlassen, wonach jeder Jude, der auf einem christlichen Schiff nach dem Osten angetroffen wird, ins Meer geworfen werden soll.

    Hier bezieht sich Sarfati auf die Bulle von Papst Martin V., die den Seerepubliken Venedig und Ancona unter Androhung der Exkommunikation aus der Christenheit verbot, Juden ins Heilige Land zu bringen.

    Ach, wie böse ist es um das Volk Gottes in Deutschland bestellt, wie traurig ist seine Kraft dahin! Sie werden hin und her getrieben und bis in den Tod verfolgt. Das Schwert des Unterdrückers hängt immer über ihren Köpfen; sie werden in die verzehrenden Flammen, in reißende Flüsse und in faulige Sümpfe geworfen.

    Brüder und Lehrer, Freunde und Bekannte! Ich, Isaac Zarfati, stamme zwar aus Frankreich, bin aber in Deutschland geboren und habe dort zu Füßen meiner geschätzten Lehrer gesessen.

    Nachdem Sarfati das Leid der Juden in Europa beschreibt, spricht er seinen verfolgten Glaubensbrüdern eine Empfehlung aus:

    Ich verkünde euch, dass die Türkei ein Land ist, in dem es an nichts mangelt und in dem, wenn ihr wollt, noch alles gut werden wird.

    Der Weg ins Heilige Land steht euch durch die Türkei offen. Ist es nicht besser für euch, unter Muslimen zu leben als unter Christen?

    Hier kann jeder Mensch in Frieden unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum wohnen (I. Könige 4:25; Jesaja 36:16; Micha 4:4; Sacharja 3:10).

    Hier dürft ihr die kostbarsten Gewänder tragen. In der Christenheit dagegen wagt ihr es nicht einmal, eure Kinder nach eurem Geschmack rot oder blau zu kleiden, ohne sie der Beleidigung auszusetzen, schwarz und blau geschlagen oder rot und grün getreten zu werden, und so seid ihr dazu verdammt, in traurigen bunten Kleidern umherzugehen.

    Alle eure Tage sind voller Kummer, auch die Sabbate und die Zeiten, die für Festmahle bestimmt sind. Fremde erfreuen sich an euren Gütern, und was nützt nun der Reichtum eurer Reichen? Sie horten ihn nur zu ihrem eigenen Leid, und an einem Tag ist er für immer verloren. Ihr nennt euren Reichtum euer Eigentum – ach, er gehört ihnen! Sie erheben falsche Anschuldigungen gegen euch.

    Sie respektieren weder das Alter noch die Weisheit; und obwohl sie euch ein sechzigfach versiegeltes Pfand gegeben haben, würden sie es dennoch brechen. Sie legen euch ständig eine doppelte Strafe auf, einen qualvollen Tod und die Beschlagnahme von Gütern.

    Sie verbieten den Unterricht in euren Schulen, sie überfallen euch während eurer Gebetszeiten, und sie verbieten euch, an christlichen Feiertagen zu arbeiten oder euren Geschäften nachzugehen.

    Und nun, da du das alles siehst, o Israel, warum schläfst du? Steh auf und verlasse dieses verfluchte Land für immer. (Psalm 44, 23)

    Zitiert aus „Franz Kobler, Herausgeber, Letters of Jews Through the Ages; Volume One: From Biblical Times to the Renaissance. Ein Selbstporträt des jüdischen Volkes (1952; New York: Hebrew Publishing Company, 1978)“, der das Original aus der Bibliotheque Nationale in Paris überliefert

    Ungefähr zur gleichen Zeit wählten die Juden einen Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde im ganzen Osmanischen Reich. Bei seiner Berufung zeigte der osmanische Sultan große Freundlichkeit. Fatih Sultan Mehmet, der Eroberer Konstantinopels, nannte den neuen Rabbi Moses Capsali „hoca“ (Lehrer), schenkte ihm goldene und silberne Kleidung (vgl. Braude, Benjamin, und Bernard Lewis. Christians and Jews in the Ottoman Empire: The Functioning of a Plural Society. New York London: Holmes and Meier, 1982. 103). Der Sultan reservierte ihm einen Platz in seinem Beratungsgremium, dem Diwan, direkt neben religiösen Oberhaupt der Muslime und über dem christlichen Patriarchen. Auch viele türkische Straßen und Viertel wurden nach jüdischen Intellektuellen benannt.

    Der Vater von Moses Capsali, Elijah Capsali, schrieb über die Geschichte der Juden im Osmanischen Reich. Im „Seder Eliyahu Zuta“ heißt es etwa: „Der Sultan Selim liebte die Juden sehr, denn er erkannte, dass er mit ihrer Hilfe Völker schlagen und mächtige Könige töten konnte.“

    1.11 | Wider den Holocaust

    Die Judenverfolgung erreichte ihren traurigen Höhepunkt im Deutschen Reich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten (1933–1945). In einem systematischen, staatlich organisierten Genozid wurden sechs Millionen europäische Juden ermordet. Nazi-Deutschland stigmatisierte Juden als „Untermenschen“ und nutzte dafür etwa die Nürnberger Gesetze (1935). In der Reichspogromnacht (1938) deportierten Deutsche Juden und erschossen sie. Der Holocaust gipfelte letztlich in der industriellen Vernichtung von europäischen Juden in Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Auschwitz.

    Zwischen 1941 und 1944 retteten 20 türkische Botschafter und Konsuln Hunderte bis Tausende europäische Juden vor dem Holocaust. Stationiert in Paris, Marseille, Budapest, Prag, Varna, Hamburg und Rhodos statten sie die verfolgten Juden mit türkischen Pässen aus, um sie vor der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zu bewahren. Die Juden konnten in die Türkei fliehen.

    Auch in Frankreich retteten berbisch-algerische Muslime unter Einsatz ihres Lebens Juden vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Si Kaddour Benghabrit, Imam der Pariser Moschee, bot rund 1 700 französischen Juden Schutz und Unterkunft. Es wurden Geburtsurkunden und Konversionspapiere für Juden gefälscht, um sie als Muslime zu tarnen. Außerdem wurde ihnen bei ihrer Flucht aus Paris geholfen. Imam Benghabrit sagte nach einer Polizeirazzia am 16. Juli 1942 in Paris, bei der 13.000 Juden, darunter 4.000 Kinder, gefangen genommen und in das KZ Auschwitz geschickt wurden: „Gestern im Morgengrauen wurden die Juden von Paris verhaftet. Die Alten, die Frauen und die Kinder. Im Exil wie wir, Arbeiter wie wir. Sie sind unsere Brüder. Ihre Kinder sind wie unsere eigenen Kinder. Wer einem seiner Kinder begegnet, muss ihm Obdach und Schutz gewähren, solange das Unglück andauert.“

    Immer wieder suchten Juden, die von europäischen Christen verfolgt wurden, historisch Asyl in muslimischen Ländern. Der Grund dafür waren unter anderem ihre wirtschaftliche und rechtliche Integration in die Gemeinschaft des muslimischen Gemeinwesens.

    2 | Israel erlebt ein „Goldenes Zeitalter“ unter Ismael

    Der Zionist und österreichisch-israelische Historiker Eliyahu Ashtor bewertet das Leben der Juden unter muslimischer Herrschaft gar als „Goldenes Zeitalter“(Vgl. „Qorot he-yehudim bi-sefarad ha-mus limit“ [History of the Jews in Muslim Spain], 2 vols. Uerusalem, 1960-66); English trans., The Jews of Moslem Spain, trans. Aaron Klein and Jenny Machlowitz Klein, 3 vols. (Philadelphia, 1973-84)).

    Eines der wichtigsten Faktoren, die den sozialen Status eines Individuums und einer Gruppe festlegen, ist ihre wirtschaftliche Stellung. Laut Mark R. Cohen besetzten Juden in der islamischen Welt nicht nur eine wirtschaftliche Nische, sondern waren in allen Bereichen der Wirtschaft aktiv.

    2.1 | Wirtschaftliche Integration

    „Je differenzierter ihre Berufsstruktur war, desto mehr erschienen sie wie die anderen um sie herum, einschließlich der muslimischen Mehrheit. Dieses vielfältige berufliche Profil wirkte dem sozialen Missbrauch entgegen, dem die Juden in christlichen Ländern – teilweise aufgrund ihrer Gleichsetzung mit einer Reihe begrenzter, problematischer Berufe ausgesetzt waren“

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 104f.

    Dabei beruft sich Cohen auf die historischen Dokumente, die er in der Kairoer Geniza gefunden und ausgewertet hat. Dabei handelt es sich um eine historische Dokumentensammlung, in der Juden über mehr als ein Jahrtausend frühe Kopien des Talmud, jüdische Eheverträge, Einkaufszettel, Briefe und weiteres lagerten.

    „Die von den Geniza-Dokumenten beschriebene Integration der jüdischen Wirtschaftstätigkeit in den islamischen Ländern, das relative Fehlen von Schranken zwischen Juden und Muslimen auf den Märkten, die beträchtliche berufliche Differenzierung der Juden und ihre Distanz zur verächtlichen Rolle des wucherischen Geldhändlers ermöglichten anständige menschliche Beziehungen zwischen jüdischen und islamischen Kaufleuten. Sie transzendierten die konfessionellen Unterschiede und verhinderten die Entstehung jenes irrationalen Stereotyps, das die volkstümliche Phantasie im nördlichen Europa gefangen hielt, wo die meisten Juden eine wirtschaftliche Nische besetzten, die sie in einen Gegensatz zur christlichen Bevölkerung brachte.“

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 105.

    Die wirtschaftliche Integration der Juden im islamischen Gemeinwesen und in der muslimischen Gesellschaft war auch deshalb so wichtig, weil dadurch jüdische Händler nicht als Fremde oder Konkurrenten gesehen wurden, sondern man teilte sich „während des 12. Jahrhunderts die Früchte des Handels“ (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 99f.). Das führte dann auch zur jüdischen Migration nach Palästina, Ägypten, Nordafrika und Spanien und zu den “Grundlagen für wohlhabende Gemeinden, deren Entwicklung in der Schaffung unabhängiger religiöser Institutionen und einer Hingabe an die Gelehrsamkeit gipfelte, die an die antiken Quellen jüdischer Autorität in Palästina und Babylonien erinnerten und schließlich an ihre Stelle traten.” (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 99f.).

    Statue von Ben Maimonides, Córdoba, Spanien. Lmbuga (Luis Miguel Bugallo Sánchez)
    Statue von Ben Maimonides, Córdoba, Spanien. Lmbuga (Luis Miguel Bugallo Sánchez)

    Unter muslimischer Herrschaft konnten Juden ihre religiösen Wissenschaften deutlich weiterentwickeln. Bis heute sind Juden auf der ganzen Welt etwa auf die Arbeit des Aaron ben Ascher angewiesen, der die Bibel vokalisierte und wichtige Arbeit im Bereich der hebräischen Grammatik leistete. Auch die Werke von Moses Maimonides, darunter die einflussreiche Systematisierung des jüdischen Rechts „Mischne Tora“, wurden unter muslimischer Herrschaft verfasst. Viele seiner Werke schrieb Maimonides auf arabisch.

    “In der islamischen Welt war geselliger Umgang zwischen jüdischen und nichtjüdischen Intellektuellen viel gewöhnlicher und weniger konfliktgeladen.

    Das Arabische, die Sprache der Hochkultur, war im zehnten Jahrhundert die gemeinsame Landessprache von Muslimen und Juden. Obwohl es als Sprache der beherrschenden Religion diente, besaß das Arabische für Juden weniger negative Assoziationen als das Lateinische, die Sprache der feindseligen Kirche.” 

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 134f.

    So war es üblich, dass Juden (und Christen) mitunter hohe politische Ämter im islamischen Gemeinwesen übernahmen. “Als kuttab (Regierungsangestellte), von der höheren Position als höchster Minister ganz zu schweigen, übten dimmis in einer Weise Autoritāt über Muslime aus, die auf das krasseste gegen die Vorschriften der angemessenen Unterordnung verstieß.” (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 199)

    Ein Beispiel dafür ist Hasdai ibn Shaprut (915-975), der im umayyadisch-andalusischen Spanien unter der Herrschaft des Kalifen Abd ar-Rahman III. als Großvesir, also eine Art Premierminister, weitreichende Befugnisse zugewiesen bekam.

    Im Gegensatz zu ihren Glaubensbrüdern im christlichen Westen waren die Juden in der islamischen Welt gut in das Wirtschaftsleben der Gesamtgesellschaft integriert. Am europäischen Maßstab gemessen, hinterläßt das relative Fehlen wirtschaftlicher Diskriminierung der Juden während der klassischen Epoche des Islam einen überaus positiven Eindruck.

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 96f.

    Jacob b. Elija berichtet über die beruflichen Gelegenheiten von Juden und bezeichnet die Steuern, die sie zahlen mussten, als gerecht und weder willkürlich noch maßlos. Dabei ist der Mechanismus sehr simpel:

    “Unter den Orientalen verdient jeder seinen Lebensunterhalt mit seinem jeweiligen Beruf. Selbst wenn die arabischen Herrscher böse und sündhaft sind, besitzen sie doch Verstand und Einsicht. Sie verlangen jedes Jahr eine vorgeschriebene Steuer, von den Älteren gemäß ihrem Alter und von den Jüngeren gemäß ihrer Jugend. In unseren Landen verhält sich dies nicht so […]. Unsere [europäischen] Könige und Prinzen denken nur daran, wie sie uns angreifen und uns überwältigen können, um uns unser Gold und Silber fortzunehmen.”

    Jacob b. Elija, der von Frankreich über Venedig in den Orient zog, in einem Brief an den Apostaten Pablo Christiani (in Norman Stillman, Jews of the Arab Lands), 13. Jahrhundert

    Als weitere Zeitzeugen führt Mark R. Cohen die Familie Tustari auf, eine einflussreiche jüdische Händlerfamilie im muslimischen Ägypten des Hochmittelalters. Nach dem Studium ihrer Zeugnisse, die in der Kairoer Geniza zu finden sind, sei die Schlußfolgerung naheliegend, dass die jüdischen Kaufleute ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in vollständiger Übereinstimmung mit den muslimischen Handelspraktiken ihrer Zeit ausgeführt haben.

    Diese bemerkenswerte Tatsache war nur vor dem Hintergrund einer Marktatmosphäre möglich, die weder konfessionelle Schranken kannte noch Minderheiten ausschloß. Samuel M. Stern vertritt in seiner Studie zur Verfassung der islamischen Stadt die überzeugende Auffassung, in der frühislamischen Zeit habe es Kaufmannsgilden und Handwerkszünfte europäischer Spielart deshalb nicht gegeben, weil dort korporative Gruppen insgesamt fehlten.

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 100f.

    2.2 | Galut oder Gesellschaftliche Integration?

    Juden, die im christlichen Europa unter Verfolgung litten, bezeichneten diese Erfahrung als „Galut“. Übersetzt bedeutet es „Exil“, aber es drückt so viel mehr als das aus. „Galut“ war für die Juden der Ausdruck einer Gefühlswelt und eines Seinszustands, in dem es um Vertreibung aus der Heimat und das Leben in der Fremde ging.

    „Das Wort ‚Galut‘ umfaßt eine Welt von Tatsachen und Vorstellungen, die sich in jeder Epoche der jüdischen Geschichte erneuert, vertieft oder verflacht haben. Politische Knechtschaft, Zerstreuung, Sehnsucht nach Befreiung und Wiedervereinigung, Sünde, Buße und Versöhnung: dies sind die großen Linien, die das Wesen der Galut bezeichnen, so lange sich überhaupt noch ein wirklicher Sinn mit dem Wort verbinden läßt.“

    Yitzhak Baer, jüdischer Historiker und Autor deutscher Herkunft, zitiert nach Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 192 

    Wie nahmen Juden das Zusammenleben mit Muslimen unter muslimischer Herrschaft wahr?


    Zeugnis vom Oberrabbiner von Jerusalem (1488)

    „In Wahrheit erfahren die Juden an diesem Ort seitens der Araber keineswegs ‚galut‘. Ich bin durch das ganze Land gereist […] und niemand sagt auch nur ein negatives Wort.

    Vielmehr sind sie sehr freundlich zu Fremden, insbesondere solchen  gegenüber, die die Sprache nicht sprechen.

    Wenn sie viele Juden an einem Ort sehen, bringen sie keinerlei Neid zum Ausdruck.”

    Rabbi Obadia von Bertinori, italienischer Rabbiner, der 1487 über Ägypten in das mamlukische Palästina auswanderte und dort zum Oberrabbiner von Jerusalem aufstieg, in einem Brief in die Heimat (1488), zitiert nach Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 193f.

    David dei Rossi, ein italienischer Jude, schreibt im Jahr 1535 aus dem osmanisch-palästinischen Safed: „Hier ist nicht galut wie in unserer Heimat“ – ebenfalls übersetzt mit: „Judenhaß ist hier, im Gegensatz zu unserer Heimat, unbekannt“ oder „Das Exil ist hier nicht wie in unserem Heimatland“ (vgl. Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 194.)

    Ich ermutige euch, das Land der …

    «[…]Umwälzungen zu verlassen und ins Heilige Land zu kommen.» Neben anderen – geistigen wie materiellen – Vorteilen erwähnt er auch einige Anreize: «Gott sei gepriesen und gedankt, wir erleben hier keine sehr unterdrückerische galut, obwohl es undenkbar ist, daß es hier keine galut geben sollte. Dennoch, es ist nicht ein Tausendstel dessen, was man von (Europa) behauptet.»

    Ibn Picho, ein sephardischer Jude aus einer angesehenen spanischen Familie, schreibt gegen Ende des 15. oder während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen Brief aus dem muslimischen Palästina an seine Verwandten in Europa, zitiert nach Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 194.

    Shlomo Dov Goitein beschreibt das kulturelle und wirtschaftliche Leben der jüdischen Gemeinschaft im Mittelalter als „Symbiose“ mit den arabisch-muslimischen Nachbarn.„Niemals“, so schrieb er in seinem Buch, „hat das Judentum eine so enge und fruchtbare Symbiose wie mit der mittelalterlichen Zivilisation des arabischen Islam erlebt.“ Es gab keine jüdischen Ghettos wie im mittelalterlichen Europa: Juden, Muslime und Christen lebten in enger Nachbarschaft zueinander, besaßen oft gemeinsam Häuser und Geschäfte, und auch in anderen Bereichen war wirtschaftliche Zusammenarbeit üblich (vgl. Wasserstrom, Between Muslim and Jew, 4 sowie 8–9; Goitein, Jews and Arabs, 130.).


    2.3 | Rechtliche Integration

    „Das Judentum erlebte unter der Herrschaft des Islam nicht das gleiche Ausmaß an Hass, Antisemitismus und Verfolgung wie das Christentum. Juden wurden nicht des Gottesmords beschuldigt und mussten ihre Religion nicht in öffentlichen Disputen verteidigen. Wenn der Begriff ‚jüdisch-christlich‘ legitim klingt, könnte der Begriff ‚jüdisch-muslimisch‘ den gemäßigten und aufgeklärten Islam beschreiben, der den Ruhm von Andalusien, Córdoba und Granada begründete.”

    Rabbi Haim Ovadia, David Sephardic Congregation, Rockville, MD

    Der führende jüdische Orientalist Ignaz Goldziher (1850-1921) schrieb im Jahr 1910: „Es ist unbestreitbar, dass in dieser frühesten Phase der Entwicklung des islamischen Rechts der Geist der Toleranz die Anweisungen durchdrang, die muslimische Eroberer für den Umgang mit den unterworfenen Anhängern anderer Religionen gegeben wurden.“

    Diese Toleranz des islamischen Rechts führte sogar dazu, dass Juden es regelmäßig vorzogen, „den Entwurf von Handelsabkommen und die Schlichtung von Streitigkeiten vor muslimischen religiösen Gerichten zu vollziehen, damit aber das alte talmudische Verbot verletzten, nicht vor die Gerichte der Nichtjuden zu ziehen“ (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 100). Das ging so weit, dass „Rechtsdokumente, die vor muslimischen Gerichten entworfen und bestätigt worden waren, als Zeugnisse vor jüdischen Gerichten“ zugelassen wurden.

    „Die Inanspruchnahme muslimischer Gerichte war so üblich, daß die Standardformel für eine bei einem jüdischen Gericht erlangte Vollmacht, so Goitein, zu erkennen gibt, ob der Anwalt zusätzlich zum jüdischen Gericht oder an seiner Stelle ein nichtjüdisches Gericht anrufen durfte. Gewöhnlich war dies der Fall.“

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 100f.

    Die aschkenasischen Rabbiner verboten jedoch streng die Anrufung von christlichen Gerichten, „aus Furcht vor nachteiliger oder unehrlicher Behandlung und anderen Demütigungen“ und der Denunziation untereinander.

    Auch wenn es mitunter missbilligt wurde, sich an muslimische statt jüdische Gerichte zu wenden, vertrauten die Juden insbesondere in wirtschaftlichen Angelegenheiten „in die Qualität der Rechtsprechung islamischer Gerichte“ (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 100f.) Wenn Juden ein islamisches Gericht für persönliche Angelegenheiten oder Familienrecht anriefen, „verwiesen die qādīs Prozeßführende häufig zurück an jüdische Richter.” (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 100f.)

    Kurioserweise war die jüdische Minderheit auch unter der muslimischen Mehrheit stark geachtet als „haqq al-Yahūd“ (dem Gesetz, der Gerechtigkeit oder der Ehrlichkeit der Juden).

    „Es bringt eine Vision der organischen Integration in ein Lebenssystem zum Ausdruck, in dem die Tatsache ihres Judeseins ein entscheidendes Element selbst des Strebens nach dem täglichen Brot und zur Grundlage ihrer Beziehungen zu den Muslimen wird.“

    Udovitch, Abraham L., Jacques Pérez, und Lucette Valensi. The Last Arab Jews: The Communities of Jerba, Tunisia. Routledge Library Editions North Africa$lvolume 4. London and New York: Routledge, 2016.

    Juden in islamischen Ländern hatten weniger Probleme damit, sich in das Rechtssystem der Muslime zu integrieren als in der christlichen Welt. Der Grund ist zum einen theologischer Natur, denn gemäß rabbinischer Lehre gilt der Islam nicht als Götzendienst – im Gegensatz zum Christentum. Laut David Novak betrachtete selbst Maimonides den Islam „als uneingeschränkt monotheistische Religion“ und erklärte, „manche islamische Praktiken seien im Grunde durch das Judentum geboten – etwa die Beschneidung.“ (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 175)

    Auch deuteten Juden einige biblische Passagen pro-islamisch, etwa eine Prophezeiung des Alten Testaments, gestützt durch den Midrasch: „Er sprach: Der HERR kam hervor aus dem Sinai, er leuchtete vor ihnen auf aus Seïr, er strahlte aus dem Gebirge Paran, er trat heraus aus Tausenden von Heiligen. Ihm zur Rechten flammte vor ihnen das Feuer des Gesetzes.“ (5. Mose 33, 2)

    Diese Stelle wird im Sifri Devarim 343:5, einem halachischen Midrasch über das Buch Deuteronomium, wie folgt interpretiert.

    Als der Herr erschien, um Israel die Tora zu geben, tat er dies nicht in einer Sprache, sondern in vier, nämlich: „Und der HERR kam vom Sinai“ – das ist Hebräisch, ‚Und schien über sie von Seir‘ – das ist Latein (wörtlich: die Sprache Roms), ‚[Er] erschien vom Berg Paran‘ – das ist Arabisch, ‚Und näherte sich von Ribeboth-kodesch‘ – das ist Aramäisch.“

    Sifri Devarim 343:5, halachischer Midrasch über das Buch Deuteronomium

    Zum einen wird hier bestätigt, dass Gott sich (auch) auf Arabisch offenbart hat, zum anderen wird hier klar ein Bezug zu den Arabern, den Nachfahren Ismaels, und den Muslimen aufgebaut. Paran ist der Ort, an dem Ismael und seine Nachfahren leben: “Und Gott war mit dem Knaben; der wuchs heran und wohnte in der Wüste und wurde ein Bogenschütze. Und er wohnte in der Wüste Paran, und seine Mutter nahm ihm eine Frau aus dem Land Ägypten.” (Genesis 21, 20f.)

    Darüber hinaus verstand Abraham Maimuni, Sohn des berühmten Maimonides, die Worte „Auch den Sohn der Sklavin werde ich zu einem großen Volk machen, weil er dein Nachkomme ist“(Genesis 21, 13) als „Anspielung auf die Religion des Islam, derjenigen, die an die Einheit des Schöpfers glauben, die aus ihm [Ismael] […] nach dem Erscheinen der Religion Israels hervorgehen werden, zu einer Zeit der Finsternis für letztere auf Grund ihrer Sünden.“ (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 158.)

    “In den Schriften der in islamischen Ländern lebenden Juden begegnet nichts, was sich mit den Schmähungen und dem Haß vergleichen ließe, die für die literarische Auseinandersetzung mit dem Christentum im aschkenasischen Judentum kennzeichnend sind; das gilt auch für die Privatbriefe aus der Kairoer Geniza, in denen man gelegentliche herabsetzende Bemerkungen über die Muslime als Gruppe vermuten würde, aber nicht findet.”

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 175.

    2.4 | Ethnischer Pluralismus

    Als einen weiteren Grund für die bessere Stellung von Juden unter islamischer Herrschaft führt Mark R. Cohen die ethnische Heterogenität des Orients an, in der Araber, Perser, Türken, Kurden, Berber, Juden, Christen, Zoroastrier sowie viele andere Ethnien und Religionen zusammenlebten. Die amerikanischen Anthropologen Carleton S. Coon und Clifford Geertz bezeichneten den ethnischen Charakter der nahöstlichen Gesellschaft sowie die soziale Organisation als “Mosaik”.

    “Die nahöstliche Gesellschaft […] bewältigt Vielfalt nicht, indem sie sie in Kasten verschließt, in Stämmen voneinander abgrenzt oder mit irgendeinem übergreifenden Verständnis von Nationalität übermalt. […] Sie bewältigt [sie], indem sie mit feiner Präzision zwischen jenen Kontexten unterscheidet, innerhalb derer Menschen durch ihre Verschiedenheit voneinander getrennt sind [Ehe, Speisegewohnheiten, Gottesdienst, Bildung], und jenen, in denen Menschen, und sei es noch so vorsichtig oder begrenzt, durch ihre Unterschiede miteinander verbunden sind.”

    Clifford Geertz zitiert nach Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 119f.

    Marokkanische Juden etwa seien laut Geertz Bürger wie alle anderen gewesen und dabei klar und eindeutig sie selbst, „[keine] ausgegrenzte Paria-Gesellschaft, abweichlerisch und auf sich selbst beschränkt, obgleich sie das gewiß auch waren. Marokkanisch durch und durch und in demselben Maße jüdisch, waren sie Erben einer zweifachen, unzertrennbaren und keineswegs marginalen Tradition.”

    Bernard Lewis fasst diesen Gedanken so zusammen:

    „Wenn wir die muslimische Haltung gegenüber den Juden und die Behandlung der Juden im Mittelalter mit der Stellung der Juden unter ihren christlichen Nachbarn im mittelalterlichen Europa vergleichen, sehen wir einige auffällige Kontraste (…) In der islamischen Gesellschaft ist die Feindseligkeit gegenüber den Juden nicht theologisch. (…) Sie ist vielmehr die übliche Haltung der Herrschenden gegenüber den Untergebenen, der Mehrheit gegenüber der Minderheit, ohne die zusätzliche theologische und damit psychologische Dimension, die dem christlichen Antisemitismus seinen einzigartigen und besonderen Charakter verleiht.“

    Bernard Lewis, History: Remembered, Recovered, Invented (Princeton, N.J., 1975), 77.

    Diesen Text möchte ich mit Verweis auf die noch heute praktizierten Mimuna-Festlichkeiten in Marokko beenden. Diese zelebrieren die marokkanischen Juden unmittelbar nach dem Pessach-Fest.

    „Im Zuge dieses Festes spielen die Muslime faszinierenderweise die Rolle jener, die den Juden den ersten «Sauerteig» überreichen – eine Bekundung der muslimischen Erleichterung über die Rückkehr der Juden auf den Marktplatz. Das Phänomen der Beteiligung von Muslimen an nichtmuslimischen religiösen Feierlichkeiten setzte jedoch nicht erst in der Moderne ein. Auch im Mittelalter distanzierten sich Muslime in Ägypten keineswegs von den religiösen Festen der dimmis, sondern nahmen im Gegenteil häufig begeistert an christlichen wie jüdischen religiösen Feiern teil.

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 136.

    „Wenn wir an jüdische Gemeinden in muslimischen Ländern denken, so geschieht dies fast immer in der Vergangenheitsform, weil die meisten von ihnen verschwunden sind.

    Aber es gibt eine bemerkenswerte Ausnahme: Ich schreibe dies aus Casablanca, Marokko, wo ich als Abgesandter des Lubawitscher Rebben, Rabbi Menachem M. Schneerson, rechtschaffenen Andenkens, tätig bin.

    Die jüdische Gemeinde hier ist zwar sicherlich viel kleiner als vor 60 Jahren, aber sie ist lebendig und aktiv, und wir fühlen uns sicher und geschützt. Chabad-Lubawitsch ist hier seit 1950 präsent, und wir haben nicht vor, irgendwohin zu gehen. Seit Hunderten von Jahren dienen muslimische Länder als Zufluchtsort für religiös Verfolgte.

    In einem Brief an Seine Majestät, den verstorbenen König Hassan II., wies der Rebbe darauf hin, dass Maimonides in Fes, Marokko, Zuflucht vor religiöser Intoleranz fand und später der Leibarzt von Sultan Saladin in Kairo, Ägypten, wurde.

    Am Ende seines Briefes an den König zitiert der Rebbe die Mischna Tora von Maimonides, in der er schreibt, dass „das Wissen um G-tt die Grundlage für die Zukunft der Menschheit ist; die ideale Welt, in der es weder Eifersucht noch Feindseligkeit zwischen Individuen und Nationen gibt, sondern nur Frieden, Gerechtigkeit und Wohlwollen unter dem einen G-tt.“

    Wir Rabbiner sollten unseren Gemeindemitgliedern sagen, dass trotz der realen und gegenwärtigen Gefahr des islamischen Extremismus – einer Gefahr sowohl für Juden als auch für Muslime – die Möglichkeit einer echten Koexistenz und eines gegenseitigen Respekts mit Muslimen real ist.

    Als Juden haben wir unseren eigenen Glauben, den wir studieren und an dem wir festhalten müssen; unser Weg, Gott zu dienen, ist ausschließlich der jüdische. Gleichzeitig schätzen wir, auch wenn es nicht unsere Religion ist, die Hingabe des Islam an den einen Gott, einen Kern unseres Glaubens, der als Fundament der Gesellschaft dienen muss. Dies sollte nicht unterschätzt werden.

    Auch wenn es manchmal schwer zu sehen ist, sind wir, die Juden Marokkos, ein Beweis dafür, dass „Frieden, Gerechtigkeit und Wohlwollen“ Realität sein können.”

    Rabbi Levi Banon, Chabad-Lubawitsch, Casablanca, Marokko
  • Antisemitismus (2/3): Muslime in der Geschichte

    Antisemitismus (2/3): Muslime in der Geschichte

    Hinweis: Diese Analyse baut auf dem Text „Minderheitenrecht im Islam“ auf und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

    Das islamische Recht betrachtet die Rechte von Minderheiten auf zwei Ebenen: individuell und gemeinschaftlich. Das Individuum, das einer Minderheit angehört, wird als „Dhimmi“ bezeichnet; die Minderheitengruppe als Kollektiv wird als „Millah“ oder „Millet“ bezeichnet

    „Strukturell gesehen gewährte das klassische islamische Recht den nicht-muslimischen Gemeinschaften das Recht auf weitgehende Autonomie bzw. Selbstbestimmung in ihren inneren Angelegenheiten in Bezug auf Bildung, Steuererhebung, Recht und Religion sowie die Befreiung vom Militär- und Staatsdienst. Bei Bedarf handelten die Führer der Millets die Höhe der Jizya mit dem Staat aus. Sie gründeten und verwalteten auch ihre eigenen Institutionen wie Gotteshäuser, Schulen, Gerichte und religiöse Stiftungen.“

    Şentürk, Recep. „Minority Rights in Islam: From Dhimmi to Citizen“. In Islam and Human Rights: Advancing a US-Muslim Dialogue, herausgegeben von Shireen T. Hunter und Huma Malik, Significant Issues Series:48–69. Washington, D.C.: Center for International and Strategic Studies (CSIS), 2005. 82.

    Hier geht es zum ganzen Text.

    Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das zunehmend größere Ausmaße annimmt. Laut Statista sind im Jahr 2023 in Deutschland 5.160 antisemitische Vorfälle polizeilich erfasst worden – nahezu doppelt so viel wie im Vorjahr. Die Zahl der Gewalttaten stieg zudem auf 148.

    Laut einer Expertise des Mediendienst Integration sollen Muslime gar „allgemein höhere Zustimmungswerte zu klassischem Antisemitismus“ aufweisen. Woran liegt das, „woher kommt der Judenhass?“, fragt auch ein MDR Investigativ-Podcast. Liegt es am Islam? Sind die Ergebnisse der Umfragen der kontroversen Anti-Defamation League und des American Jewish Committee, die der Mediendienst Integration zitiert, der Beweis für einen historisch-gewachsenen und importierten Antisemitismus aus der muslimischen Welt?

    Die Antwort auf diese Frage ist komplex und unangenehm, aber in Zeiten ungekannter gesellschaftlicher Polarisierung notwendig. Vor allem inspiriert durch das Buch von Mark R. Cohen „Unter Kreuz und Halbmond: die Juden im Mittelalter“ will ich die historische Beziehung zwischen Israel (Juden), Edom (Christen) und Ishmael (Muslimen) beleuchten. Aus der historischen Entwicklung können Lehren für die Gegenwart und Zukunft gezogen werden.

    Mark R. Cohen ist ein amerikanischer Wissenschaftler für jüdische Geschichte in der muslimischen Welt und emeritierter Professor für Nahoststudien an der Princeton University.

    “Der mittelalterliche Islam stellte die Juden oder Christen nicht auf irrationale Weise als jene dar, die gemeinsam mit dem Satan die Gesellschaft untergruben.

    Die Verschärfung der islamischen Feindseligkeit gegenüber Christen und Juden während der Zeit der Kreuzzüge und der mongolischen Eroberungen, die der Auffassung von Lewis und anderen zufolge aus der Furcht vor der Kollaboration einer fünften Kolonne mit dem Feind erwuchs, verweist auf einen auffallenden Gegensatz zur Situation im christlichen Bereich. Der Verdacht, dimmis arbeiteten mit dem äußeren Feind zusammen, ist entschieden kein «irrationales Denken hinsichtlich der Juden». Er beruhte vielmehr auf dem empirischen Wissen, daß viele Nichtmuslime eine christliche oder heidnisch-mongolische Herrschaft vorzogen, weil sie hofften, auf diese Weise den demütigenden Aspekten der dimma zu entkommen.

    Ibn Qayyim al-Gawziyya veranschaulicht den glaubhaften Vorwurf eines solchen Verrats durch dimmis mit Hilfe einer Geschichte über einen christlichen Angestellten im Ägypten der Mamlukenzeit, der, wie man entdeckt habe, den europäischen Christen (firang) in Briefen geheimdienstliche Informationen (ahbar) über die Muslime habe zukommen lassen. Das Fehlen des irrationalen Elements der diabolischen jüdischen Feindschaft im islamischen Denken muß als herausragender Grund für das geringe Maß an Judenverfolgung gelten.”

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 169-171.

    Die Fatimiden unter
    Kalif al-Hakim

    (996-1021, Nordafrika und Palästina)

    Der fatimidische Herrscher al-Hakim bi-Amr Allah, der der Sekte der ismailitischen Minderheit der Schiiten angehörte, verfolgte sowohl die mehrheitlich traditionell-sunnitischen Muslime als auch die Christen und Juden in seinem Reich.

    „Die Christen- und Judenverfolgungen in Ägypten und Palästina während der Herrschaft des angeblich verrückten fatimidischen Kalifen al-Hakim (996-1021) haben auf Grund ihrer Ungewöhnlichkeit erhebliches Interesse auf sich gezogen. Die Episode ist in der Tat so bizarr, daß sie sich nicht einfach in Bernard Lewis‘ System einordnen läßt. Al-Hakims Herrschaft war voller willkürlicher, unberechenbarer und merkwürdiger Akte: So befahl er einmal, alle Hunde zu töten. Von Zeit zu Zeit schaffte er aber auch die Steuern ab, machte/ Geschenke an Empfänger, die damit überhaupt nicht rechneten, und flößte der gesamten ägyptischen Bevölkerung Angst und Schrecken ein (…) Im Widerspruch zum islamischen Recht zwang al-Hakim dimmis, zwischen ihrer Bekehrung zum Islam und der Vertreibung zu wählen. (…) Selbst die mittelalterlichen Chronisten zweifelten an al-Hakims Zurechnungsfähigkeit.”

    Cohen, Mark R. Unter Kreuz und Halbmond: die Juden im Mittelalter. 2. Auflage. München: Beck, 2011. 162f.

    Diese Vorschriften waren zurecht Grund für gesellschaftlichen Missmut über die Tyrannei des verrückten al-Hakim, sodass selbst die muslimische Mehrheit…

    „(…) Juden und Christen, die gezwungen worden waren, den Islam anzunehmen, nach Abflauen der Verfolgungen gestattete, zu ihrem ursprünglichen Glauben zurückzukehren. Während der ersten dieser Verfolgungen veröffentlichte al-Hakims Sohn und Nachfolger al-Zahir ein Dekret, in dem er die Ablehnung der Zwangsbekehrung im Islam bekräftigte und erneut auf die muslimische Verpflichtung hinwies, die dimmi-Bevölkerung zu schützen.” 

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 176.

    Obwohl der verrückte Herrscher al-Hakim Juden, Christen und die sunnitische Mehrheit diskriminierte, lebte auch er punktuell Momente der Gerechtigkeit. Als es etwa im Jahr 1011 in Kairo zu Ausschreitungen durch einen Mob gegen einen jüdischen Beerdigungszug kam, verurteilte der Kalif die rebellischen Muslime für diese Ungerechtigkeit und entschädigte die jüdischen Opfer. (vgl. Cohen, 186f.)


    Die fanatischen Almohaden

    (12. Jahrhundert, Spanien)

    Die dunkelste Zeit für die jüdisch-muslimische Koexistenz unter muslimischer Herrschaft war unzweifelhaft unter den fanatischen Almohaden Mitte der 1140er Jahre. Die berbischen Almohaden waren eine extremistisch-reformistische Sekte, die ihren Herrscher Ibn Tumart zum Mahdi ernannten, also einer erwarteten Heilsfigur der Endzeit. Die Almohaden lehnten den traditionell-sunnitischen Islam der malikitischen Rechtsschule ab und zerstörten die jahrhunderte lange Praxis von islamisch garantierter Religionsfreiheit für Nicht-Muslime. Die Muslime, die der traditionell-islamisch-malikitischen Tradition angehörten und für das tolerante Zusammenleben mit Nicht-Muslimen standen, wurden ebenfalls verfolgt und unterdrückt.

    „Die schlimmste Verfolgung, die Juden während dieser Zeit erdulden mußten, war jene durch die berberischen Almohaden, die Mitte der 1140er Jahre während und im Gefolge ihrer Eroberungszüge in Nordafrika und Spanien einsetzte. Die militante Verkündigung dieser puritanischen Sekte machte alle, die sich ihr widersetzten, Muslime wie Nichtmuslime, zu Feinden.“

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 164.

    Es ist unschwer zu erkennen, dass fanatische Ideologien wie die der Almohaden auch gewöhnliche Muslime zu Opfern machte. Daher bedarf es keiner Erklärung, dass die von den extremistischen Almohaden verfolgten Juden wieder in muslimischen Ländern Asyl fanden, etwa in Marokko, Ägypten und Palästina. Die muslimische Welt, die überwiegend der toleranten Tradition verbunden ist, hatte der Engstirnigkeit solcher Gruppen gute Argumente entgegenzusetzen.

    Andre Chouraqui, ein nordafrikanischer jüdischer Intellektueller und Historiker, der über die Juden in seiner angestammten Heimat schreibt, bezeichnet die Verfolgung durch die muslimischen Almohaden im zwölften Jahrhundert als „vorübergehend„. Er führt die meisten Pogrome gegen die Juden im unterdrückerischen Spätmittelalter eher auf „Lust und Neid als auf Ausbrüche von Hass“ zurück:

    „Außerdem gab es im muslimischen Maghreb zu keiner Zeit eine Philosophie und Tradition des Antisemitismus, wie sie in Europa vom Mittelalter bis in die Neuzeit existierte (…) In den meisten Perioden der Geschichte waren die Juden Nordafrikas glücklicher als die Juden in den meisten Teilen Europas, wo sie unerbittlich gehasst wurden; solch extreme Solche extremen Zustände gab es im Maghreb nicht.“

    Andre N. Chouraqui, Between East and West: A History of the Jews of North Africa, trans. Michael M. Bernet (Philadelphia, 1968; French orig., Paris, 1952), 53-54.

    Der Antisemitismus in muslimischen Ländern war im Gegensatz zu „europäischen Verfolgungen, die per definitionem antijüdisch und seit dem Ersten Kreuzzug weitverbreitet und charakteristisch waren“, in den Worten von Shlomo Dov Goitein „eher lokal und sporadisch denn allgemein und endemisch“.

    Laut Bernard Lewis wurden solche Ausbrüche vor Beginn der Neuzeit zumeist damit erklärt, „daß die dimmis sich nicht an die ihnen gesteckten Grenzen hielten, daß sie sich anmaßend benahmen, daß sie die anderen überflügelten“. Ganz im Sinne von Louis Dumont, französischer Anthropologe und Ethnologe, leben in jeder hierarchischen Gesellschaft Gruppen mit unterschiedlichem Status solange harmonisch zusammen, wie sie „einvernehmend den Kodex [akzeptieren], der sie hierarchisiert und voneinander trennt“.


    Arabischer Antisemitismus

    (19. – 21. Jahrhundert)

    “Der arabische Antisemitismus entstand ursprünglich im neunzehnten Jahrhundert, als sich christliche Araber klassischer Stereotypen des christlichen Antisemitismus bedienten. Mit der Verschärfung des arabisch-jüdischen und arabisch-israelischen Konflikts intensivierte sich diese Form des Antisemitismus und wurde zum Allgemeingut der arabischen Welt.”

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 27f.

    Der arabische Antisemitismus wurde ursprünglich im neunzehnten Jahrhundert von christlichen Arabern unter Verwendung klassischer christlicher antisemitischer Stereotypen entwickelt. Diese Ansicht ist unter Wissenschaftlern weit verbreitet (vgl. Moshe Ma’oz „The Image of the Jew in Official Arab Literature and Communications Media“ (Jerusalem, 1976), 5-23; Norman Stillman, „New Attitudes towards the Jew in the Arab World“, Jewish Social Studies 37 (1975), 198).

    “Erst im 19. Jahrhundert wurden Muslime mit dem europäischen Hass auf Juden konfrontiert: Priester und Diplomaten brachten die ,Ritualmord‘-Legende des christlichen Mittelalters in den Orient. So machte 1840 die ,Damaskus-Affäre‘ international Schlagzeilen. Mönche und der französische Konsul beschuldigten Juden, einen Ordensbruder und dessen Begleiter ermordet zu haben, da sie deren Blut für ein bevorstehendes Pessachfest benötigten. Die antijüdischen Diffamierungen, Hetzkampagnen und Ausschreitungen, die nun folgten, wiederholten sich in den folgenden Jahrzehnten im gesamten Osmanischen Reich, jeweils angestachelt durch christliche Minderheiten im Orient.”

    Küntzel, Matthias. „Islamischer Antisemitismus“. Bundeszentrale für politische Bildung, 30. April 2020. https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/307771/islamischer-antisemitismus/.

    Der Antisemitismus nahm erst mit der erstarkenden Propaganda von Nazi-Deutschland in Zusammenarbeit mit Amin al-Husseini Fahrt auf.

    „Zu diesem Zeitpunkt setzte Nazi-Deutschland alle Hebel in Gang, um seinen Judenhass in diese Region zu exportieren. […] Wichtigstes Werkzeug für die Propagierung des Nazi-Antisemitismus in der arabischen/muslimischen Welt war ein Radiosender aus dem brandenburgischen Zeesen, einem kleinen Ort südlich von Berlin, der sechs Jahre lang – vom 25. April 1939 bis zum 26. April 1945 – den Judenhass allabendlich auf Arabisch, Persisch und Türkisch von Berlin aus in die muslimische Welt sendete. […] Zudem nutzten sie den lokalen Konflikt zwischen der zionistischen Bewegung und den Arabern in Palästina, um diesen antisemitisch aufzuladen und Kompromisslösungen zu torpedieren. Mit ihrem theologisch angepassten Antisemitismus veränderte diese Radiopropaganda das Bild vom Juden in der arabischen Welt. Sie beförderte eine (ausschließlich) antijüdische Lesart des Koran, popularisierte die europäischen Weltverschwörungsmythen und prägte eine genozidale Rhetorik gegenüber Israel. Nach und nach begannen muslimische Araber, die christlich-europäische Vorstellung vom Judentum als einem „kosmischen Übel“ zu übernehmen.”

    Küntzel, Matthias. „Islamischer Antisemitismus“. Bundeszentrale für politische Bildung, 30. April 2020. https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/307771/islamischer-antisemitismus/.

    Doch das alles genügte noch nicht, um die arabische und jüdische Bevölkerung vollends zu entzweien. Über Jahrhunderte waren die Gruppen zusammengewachsen, was in einem der nächsten Abschnitte dieser Analyse noch genauer dargelegt werden soll.

    „Die friedlichen Beziehungen zwischen Arabern und Juden unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches und in den Provinzen (vilayets) Beirut, Hedjaz und dem Distrikt (sandjak) Jerusalem, der später unter dem britischen Mandat zu Palästina wurde, gehen der Entwicklung der zionistischen und arabischen Nationalbewegung im späten neunzehnten Jahrhundert voraus. Es sei darauf hingewiesen, dass die jüdischen Minderheiten in der Regel, vor allem in den Städten, mit Respekt behandelt, selten verfolgt und oft geschützt wurden. Auf individueller und familiärer Ebene unterhielten die wenigen Tausend Juden, die in den alten Städten Jerusalem, Tiberias, Jaffa, Hebron und Safed lebten, dem so genannten alten Ishuv (auf Hebräisch: Gemeinschaft, Siedlung), im Allgemeinen freundschaftliche Beziehungen zu ihren arabischen Nachbarn, und es gibt keine Aufzeichnungen über blutige Zwischenfälle.“

    Salim Tamari, Jerusalem 1948. The Arab Neighborhood and Their Fate in the War (Bethlehem, The Institute for Jerusalem Studies and Badil Resource Center, 1999).

    Doch mit der weiteren Verschärfung des arabisch-jüdischen/arabisch-israelischen Konflikts – insbesondere nach der Nakba, der Vertreibung von 750.000 Palästinensern durch Israel in den Jahren 1947 und 1949, sowie dem Sechstagekrieg im Juni 1967 – nahm er an Intensität zu und wurde in der arabischen Welt verbreitet.

    “Ende der 1960er Jahre – genauer: im Gefolge des Sechstagekriegs vom Juni 1967 – führten Faktoren, die mit dem arabisch-israelischen Konflikt zusammenhingen, in einigen Kreisen zu einer radikalen Neudeutung der jüdisch-arabischen Geschichte.”

    Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 18.

    Das galt etwa für die ideologisierte Interpretation von religiösen Quelltexten für antisemitisch-politische Ziele seitens säkularer arabischer Diktatoren, aber auch seitens der jüdisch-israelischen Fanatiker, die „den arabischen Antisemitismus als Fortsetzung einer alten, immer schon bestehenden arabisch-islamischen Tradition des Judenhasses und der Judenverfolgung zu deuten” (Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. 19.) versuchten.

    Doch wie die Beziehung zwischen Juden, Christen und Muslimen in mehreren Jahrhunderten wirklich aussah, können wir unter anderem dem Bericht von Zeitzeugen entnehmen. Mark R. Cohen wertet etwa im Rahmen seiner Forschung Dokumente aus der Geniza von Kairo aus. Dabei handelt es sich um eine historische Dokumentensammlung, in der Juden über mehr als ein Jahrtausend frühe Kopien des Talmud, jüdische Eheverträge, Einkaufszettel, Briefe und andere Arten von Dokumenten lagerten. Eine ausführliche Analyse zeigt:

    „Obwohl es Zeiten gegeben hat, welche die Juden in muslimischen Ländern auf eine harte Probe stellten, sind viele Historiker der Meinung, ihr Schicksal sei besser gewesen als das der Juden in europäischen Ländern. Es gab jedoch auch Verfolgungen; Juden wurden häufiger ermordet und beraubt als ihre muslimischen Nachbarn. Dennoch waren antijüdische Pogrome in muslimischen Ländern weniger verbreitet als in christlichen. Es ist nicht bekannt, daß die Massen Verbrennungen auf Scheiterhaufen, zu denen es in vielen Teilen Europas kam, auch in der muslimischen Welt stattgefunden hätten. Während die Juden in Europa viele Male aus ihrer Heimat vertrieben wurden, ist für die muslimische Geschichte nur ein einziges ähnliches Beispiel überliefert: 1678 befahl man den Juden des Jemen, den Islam anzunehmen oder das Land zu verlassen. Sie brachen in Massen auf und ließen sich in Mauza‘ nieder, einer kleinen jemenitischen Stadt am Roten Meer. 1681 gestattete man ihnen die Rückkehr in den Jemen.”

    Amerikanisch-jüdischer Autor Heskel M. Haddad, der ursprünglich aus Bagdad stammt (zitiert nach Cohen, Unter Kreuz und Halbmond)

    Andere Forscher gehen sogar einen Schritt weiter und sagen:

    „Es gibt im mittelalterlichen Islam nichts, was man ausdrücklich als Antisemitismus bezeichnen könnte.“

    Claude Cahen, französischer Orientalist und Historiker, in Arabica 9 f1962], 76- 79; 10 [1963], 95

    Doch wie genau sah die Beziehung zwischen Muslimen, Juden und Christen historisch aus? Um diese Frage wird es im nächsten Artikel gehen.

  • Antisemitismus (1/3): Minderheitenrecht im Islam

    Antisemitismus (1/3): Minderheitenrecht im Islam

    “Sahl bin Hunaif und Qais bin Sa’d saßen in der Stadt Al-Qadisiya. Ein Trauerzug fuhr vor ihnen vorbei und sie standen auf. Ihnen wurde gesagt, dass es sich um den Trauerzug eines der Bewohner des Landes handelte, d.h. eines Nicht-Muslims, der unter dem Schutz der Muslime stand.

    Sie sagten: ,Ein Leichenzug kam vor dem Propheten (ﷺ) vorbei, und er stand auf. Als er erfuhr, dass es der Sarg eines Juden war, sagte er: ‘Ist es nicht auch eine Seele?’’”

    Sahih al-Bukhari 1312

    Das islamische Recht betrachtet die Rechte von Minderheiten auf zwei Ebenen: individuell und gemeinschaftlich. Das Individuum, das einer Minderheit angehört, wird als „Dhimmi“ bezeichnet; die Minderheitengruppe als Kollektiv wird als „Millah“ oder „Millet“ bezeichnet(vgl. Recep Şentürk, „Millet „; TDV Islam Ansiklopedisi [Türkische Enzyklopädie des Islam], Band 29 (Istanbul: Zentrum für Islamische Studien [ISAM], 2003)).

    In der klassischen islamischen Rechtswissenschaft bedeutet der Begriff „Dhimma„, Rechenschaftspflicht bzw. Verantwortlichkeit und Unverletzlichkeit. Dhimma zu haben ist ein Privileg, das einen dazu berechtigt, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Die Rechenschaftspflicht vor dem Gesetz ist eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Gesellschaft, die mit dem Recht auf vollständige Unverletzlichkeit einhergeht.

    „Dhimma“ wird gemeinhin auch als „Schutz“, „Vertrag“ (‚ahd) und „Frieden“ (sulh) verstanden, da es sich um einen Vertrag handelt, der Nicht-Muslime unter den Schutz der Muslime stellt. Es bedeutet, dass eine Person dem Gesetz unterstellt ist oder unter seinem Schutz steht.

    Demnach haben alle Menschen aufgrund ihres Menschseins „Dhimma“. Der Begriff „Ahl Al-Dhimma“ gilt daher buchstäblich für alle Menschen auf der ganzen Welt, denn alle Menschen werden mit Dhimma geboren. Die Tatsache, dass nicht-muslimische Minderheiten üblicherweise so genannt werden, zeigt, dass auch nicht-muslimische Minderheiten das Recht auf eine Rechtspersönlichkeit haben und dass sie ihre Verantwortlichkeit anerkennen.

    “Mudschahid berichtete, dass ein Schaf für ‚Abdullah Ibn ‚Amr geschlachtet wurde.

    Er fragte einen Diener: „Hast du unserem jüdischen Nachbarn etwas geschenkt? Ich hörte den Gesandten Allahs ﷺ sagen: ,Dschibril hat mir immer wieder empfohlen, meine Nachbarn gut zu behandeln, bis ich dachte, er würde sie zu Erben erklären.‘“

    Al-adab al-mufrad

    Universelle Menschenrechte im Islam

    Im Islam gilt die Maxime: „Die Menschenrechte/Unverletzlichkeit/Würde stehen der Menschheit (allein aufgrund ihres Menschseins) zu.“ – auf Arabisch: „al-‚ismah bi al-adamiyyah„. Dieser Leitspruch geht auf den Stifter der größten islamischen Denkschule Abu Hanifa (699-767 n. Chr.) zurück (vgl. al-Marghinani, al-Hidayah Sharh Bidayah al-Mubtadi, 852 und 865).

    Die Menschenrechte sind demnach angeboren, universell, unverdient, unveräußerlich und unterscheiden sich daher nicht von Individuum zu Individuum oder von Gemeinschaft zu Gemeinschaft. Die Kinder Adams haben überall auf der Welt Anspruch auf diese Rechte, unabhängig von ihrer Rasse, ihrem Geschlecht, ihrer Sprache und ihrer Religion. Der Begriff „Adamiyyah“ ist eine Abstraktion, die von den Rechtsgelehrten verwendet wurde, um die „Menschheit“ auf universeller Ebene zu bezeichnen, die sowohl Männer als auch Frauen, Muslime und Nicht-Muslime umfasst.

    Muslimische Rechtsgelehrte sind sich einig, dass eine Person, die Anspruch auf „‚ismah“ hat, das genießt, was in den modernen Menschenrechten als „Grundrechte“ oder „unwiderrufliche Rechte“ bezeichnet wird. Sie bestehen aus:

    1. dem Recht auf Leben (‚ismah al-nafs oder ‚ismah al-dam)
    2. dem Recht auf Eigentum (‚ismah al mal)
    3. dem Recht auf Religion (‚ismah al-din)
    4. dem Recht auf Vernunft und Denken (‚ismah al-‚aql)
    5. dem Recht auf Familie und Nachkommenschaft (‚ismah al-nasl)
    6. dem Recht auf Ehre (‚ismah al-‚ird)

    Die klassischen muslimischen Rechtsgelehrten sind sich einig, dass der Schutz dieser Rechte der Zweck aller Rechtssysteme ist. Daher werden diese Rechte auch als „Ziele des Rechts“ (maqasid al-sharia) bezeichnet. Folglich hat keiner der muslimischen Rechtsgelehrten der klassischen Ära behauptet, der Islam sei die erste Religion, die den Menschen diese Rechte gewährt. Stattdessen behaupteten sie, dass die Gewährung dieser Rechte an alle Menschen immer das gemeinsame Merkmal aller Religionen und Rechtssysteme gewesen sei.

    Kollektivrechte im islamischen Recht

    In dem Aspekt der individuellen Menschenrechte ist ein nicht-muslimischer Minderheitsangehöriger einem muslimischen Mehrheitsangehörigen demnach laut islamischem Recht ebenbürtig. Auf der Ebene der Kollektivrechte hingegen macht das islamische Recht Unterschiede zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen geltend.

    „Strukturell gesehen gewährte das klassische islamische Recht den nicht-muslimischen Gemeinschaften das Recht auf weitgehende Autonomie bzw. Selbstbestimmung in ihren inneren Angelegenheiten in Bezug auf Bildung, Steuererhebung, Recht und Religion sowie die Befreiung vom Militär- und Staatsdienst. Bei Bedarf handelten die Führer der Millets die Höhe der Jizya mit dem Staat aus. Sie gründeten und verwalteten auch ihre eigenen Institutionen wie Gotteshäuser, Schulen, Gerichte und religiöse Stiftungen.“

    Şentürk, Recep. „Minority Rights in Islam: From Dhimmi to Citizen“. In Islam and Human Rights: Advancing a US-Muslim Dialogue, herausgegeben von Shireen T. Hunter und Huma Malik, Significant Issues Series:48–69. Washington, D.C.: Center for International and Strategic Studies (CSIS), 2005. 82.

    Minderheiten dürfen ihr eigenes religiöses Recht in vollem Umfang ausüben, sofern es nicht im Widerspruch zu den sechs axiomatischen Grundsätzen des islamischen Rechts, die oben genannt sind, steht. Wenn Praktiken ausdrücklich gegen diese Grundrechte verstoßen, wurden sie verboten, so etwa die Praxis der Witwenverbrennung (Sati) in Indien oder die Heirat mit Geschwistern bei einigen Zoroastriern im Iran.

    „Im Großen und Ganzen erkennt das islamische Recht zwei große Gruppen an: Das muslimische Millet und das nicht-muslimische Millet, jeweils mit Unterteilungen. Das muslimische Millet ist in zwei Hauptgruppen unterteilt – Schiiten und Sunniten –, die wiederum jeweils Untergruppen haben, von denen jede Madhhab genannt wird (was sich auf eine Rechtsschule bezieht). Die Untergruppen des nicht-muslimischen Millet werden ebenfalls als Millet bezeichnet. Die institutionelle Organisation, in der all diese Gruppen horizontal miteinander und vertikal mit dem muslimischen Herrscher verbunden sind, wird als Millet-System bezeichnet. Diese pluralistische Sozial- und Rechtsstruktur wurde durch eine bestimmte Auffassung von „normativer Wahrheit“ begünstigt. Der pluralistische theologische Ansatz für rechtliche und moralische Normen ermöglichte die Koexistenz verschiedener Millets und Madhhabs nebeneinander in einer Gesellschaft.“

    Şentürk, „Minority Rights in Islam: From Dhimmi to Citizen“.79.

    Dabei mussten nicht-muslimische Minderheiten in muslimischen Ländern gemäß klassischem islamischen Recht als „Millets“ unter ihren religiösen Führer organisiert sein und ihrem kanonischen Recht folgen. Der Millet-Status und die damit verbundenen Rechte werden nicht nur den christlichen und jüdischen Gemeinschaften – die als „Gemeinschaft des Buches“ (Ahl al-Kitab) gelten – gewährt, sondern auch den Zoroastriern im Iran und den Hindus und Buddhisten in Indien. Folglich gelang es im Laufe der islamischen Geschichte einer großen Zahl von muslimischen und nichtmuslimischen Gemeinschaften, ihre Identität und Kultur zu bewahren (Vergleiche Braude and Lewis, Christians and Jews in the Ottoman Empire). Das bedeutet nicht, dass es keine diskriminierenden Praktiken gegenüber Nicht-Muslimen gab, insbesondere wenn man die modernen Menschenrechtsstandards betrachtet.

    “(…) die permanenten Bewohner der Sphäre des Islam, die ahl al-dimma (die unter Schutz stehenden Leute), die von einer dritten Möglichkeit profitieren: dem Privileg, im Gegenzug zu Sicherheit und der mehr oder weniger freien Religionsausübung ohne Zwang zur Konversion Tribut zu zahlen. Somit lebten die jüdischen und christlichen dimmis, auch wenn sie marginalisiert waren, in einer anerkannten, festgelegten und geschützten Nische innerhalb der Hierarchie der islamischen Gesellschaftsordnung.” 

    Cohen, Mark R. Unter Kreuz und Halbmond: die Juden im Mittelalter. 2. Auflage. München: Beck, 2011.